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Leseprobe Flammenblut

 Unmittelbar neben ihm brüllte ein kleiner, ernster Mann in der blaugoldenen Rüstung der Stadtwache Befehle in dem irrwitzigen Versuch, eine Verteidigung gegen das aufzustellen, was unweigerlich bald durch das Tor strömen würde. Keine Barrikade würde Sammakhar aufhalten können, kein Schwert und kein noch so unbeugsamer Wille. Aber der Fluss würde es können.

„Ihr müsst die Brücke sprengen!“, rief er dem Befehlshaber zu.

Der Mann hielt kurz inne und starrte ihn entgeistert an.

„Sprengt die Brücke!“, brüllte Emmeth.

Der Mann lachte humorlos, ein unangenehmes Geräusch, das sich anfühlte wie kratzige Wäsche auf der Haut.

„Jungchen, selbst wenn ich das wollte, wäre es unmöglich. Die Sprengladungen sind seit zwanzig Jahren dort unten. Die taugen zu nichts mehr. Und jetzt sieh zu, dass du weiterkommst!“

Im gleichen Moment hörten sie das Kreischen von tonnenschwerem Metall, das sich unter der Last der zitternden Mauern verbog, und die schweren Angeln, die knallend wie Peitschenschläge barsten. Emmeth blickte hinüber zum Haupttor, und in eben diesem Augenblick verschwand es in einer gewaltigen, ohrenbetäubenden Explosion. Flammen schlugen aus dem Torhaus, loderten die Mauern hinauf und meterhoch in den nächtlichen Himmel. Die beiden schweren Torflügel wurden davon geschleudert wie Spielzeug. Akkaval war gefallen.

Die noch verbliebenen Zivilisten gerieten nun vollends in Panik und stürmten über die Brücke. Alte Frauen wurden zu Boden gerissen und blindlings überrannt. Ein armer Bursche wurde versehentlich über die Brüstung der Brücke gestoßen und verschwand schreiend in der Finsternis. Selbst einige der verbliebenen Soldaten suchten ihr Heil in der Flucht.

Von fern konnte Emmeth die ersten roten Priester sehen, die durch das offene Tor strömten, und die wenigen Furchtlosen, die noch immer glaubten, die Mauer halten zu können, wurden mit Feuer und Schwert aus dem Leben getilgt.

Der Felsen, dachte Emmeth, doch seltsamerweise fühlte sich der Gedanke fremd an, beinahe, als wäre es nicht sein eigener.

Zertrümmere den Felsen!

Er erkannte Ronnegars Stimme, und mit einem Mal stand er wieder in dem kleinen Wäldchen hinter dem Akademiegelände, in dem er mit Ronnegar tage- und nächtelang trainiert hatte, um sich auf die Prüfungen vorzubereiten.

„Zertrümmere den Felsen”, forderte ihn sein Bruder erneut auf und deutete lächelnd auf den riesigen grauen Brocken, der am Ufer des kleinen Baches lag.

Emmeth hob eine weitere Wasserkugel aus dem plätschernden Rinnsal. Diesmal würde er es schaffen. Er würde sich auf gar keinen Fall von Ronnie bloßstellen lassen! Er presste mit beiden Händen gegen die Kugel und konzentrierte sich auf den nackten, schroffen Stein. Dann ließ er das Wasser mit ganzer Kraft nach vorne schießen und formte es in Gedanken zu einem flachen, schneidenden Strahl. Ein paar kleine Bröckchen wurden aus der Oberfläche des Felsens gesprengt, doch ansonsten lag das graue Ungetüm nur weiter grinsend vor ihm.

„Verdammt!“, fluchte er lautstark.

„Sieger ist: Der Felsen!“, tönte Ronnegar wie ein Marshall bei einem Turnier.

„Es ist ein achtmal beschissener Stein, Ronnie!“, giftete Emmeth ihn an. „Wie soll ich den bitteschön zerstören?“

„Naja, du könntest Wasser darüber fließen lassen, bis er weggewaschen ist”, spottete Ronnegar grinsend. „Dauert höchstens ein paar Jahre.“

„Arschloch!“, blaffte Emmeth ihn an.

„Oder aber du fängst an, deinen Verstand zu benutzen”, erklärte Ronnegar ungerührt. „Es ist ein Felsen, und deine einzige Waffe ist Wasser. Von außen wirst du ihn nicht besiegen, egal, wie gut du bist.“

„Du bist ein verdammter Klugscheißer”, maulte Emmeth verdrossen. „Was soll ich also tun?“

Ronnegar ging hinüber zu dem riesigen Brocken und betrachtete ihn von allen Seiten. Schließlich fand er an der Unterseite einen kleinen Spalt.

„Zerstöre ihn von innen”, lächelte er Emmeth an.

Dann ließ er Wasser in den Spalt fließen, und als der Riss vollständig gefüllt war, ließ er es gefrieren. Der Felsen knackte laut, blieb aber ansonsten unbeeindruckt.

„Ganz toll, Ronnie!“, höhnte Emmeth abfällig.

„Geduld, Emmie, ist eine Tugend. Steter Tropfen höhlt den Stein.“

Er wiederholte die Prozedur noch zwei weitere Male, ehe der Felsen krachend in zwei Teile zerbarst. Emmeth war verblüfft und wütend zugleich.

„Sieger in diesem Durchgang: Ronnegar Finnley!“, lachte Ronnegar triumphierend.

Ronnegar Finnley.

Wie ein Echo hallte der Name seines toten Bruders durch seine Gedanken, während die Erinnerung langsam verblasste und die erschreckende Gegenwart sich erneut in sein Bewusstsein drängte. Die Gefechte in Akkaval waren noch immer in vollem Gange, jedoch mittlerweile viel näher. Es gab kaum noch Widerstand auf der anderen Seite des Flusses. Die Zeit lief ihm davon.

„Alle von der Brücke runter!“, brüllte er, so laut er konnte.

 

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